Warum Share of Search das neue Share of Voice ist.
Photo by Rajeshwar Bachu on Unsplash
München, 27.10.2020
Als ein gewisser James Peckham, damals noch Analyst beim heutigen Marktforschungsgiganten The Nielsen Company die später nach ihm benannte Peckham-Formel entwickelt hat, war die Welt noch in Ordnung. Werber trugen mit Vorliebe rote Hosenträger und rauchten Kette in ihren schicken Büros in der Madison Avenue (die jüngeren unter uns kennen das aus der Serie »Mad Men«). Die Nielsen-Berater schwirrten in der Welt umher, um bei allen wichtigen FMCG-Markenartikelunternehmen in regelmäßigen Abständen bedauernswerte Marketingentscheider mit ihren Overheadfolien voller Marktzahlen zu Tode zu langweilen, und die ungeheuren Werbebudgets der großen Konzerne wurden großzügig auf die eher wenigen reichweitenstarken Medienkanäle verteilt, die wir heute abschätzig mit »analog« benennen.
In diesem Post möchte ich ein Plädoyer für den Share of Search als neue, zeitgemäße Messgröße für die Bedeutung und das Wachstumspotenzial von Marken halten und den guten alten Share of Voice in die verdiente Rente schicken.
Zu Beginn meiner noch jungen Karriere als Werber (und ja, ich besaß zwei paar rote Hosenträger) war der Share of Voice (SoV) unsere Schlüsselmetrik für die Festlegung von Budgets und die Prognose von daraus resultierendem Markenwachstum, aber nicht nur die Digitalisierung der Medien macht es heute eigentlich unmöglich, den SOV einer Marke einigermaßen präzise zu kalkulieren. Den Share of Search (SoS), also den Anteil einer Marke an Suchanfragen in einer Kategorie zu messen, ist dagegen eine einfache, elegante und zeitgemäße Alternative.
Aber noch einmal zurück zu James Peckham. Der kam mit Anfang 20 zu AC Nielsen und arbeitete noch 43 Jahre für das Unternehmen. Er war einer von Nielsens wichtigsten und erfahrensten Marketingdenkern, der in der Schlüsselphase der oben schon erwähnten »Mad Men«-Ära im Unternehmen tätig war, später zum Executive Vice-President und Director der AC Nielsen Company aufstieg und mit »The Wheel of Marketing: An Analysis and Interpretation of what Generally Can be Expected to Happen to Consumer Sales of Branded Food Products […] when a Series of Marketing Actions Takes Place« Ende der Siebzigerjahre einen inzwischen vergriffenen Marketing-Bestseller schrieb.
Die nach ihm benannte »Peckham-Formel« besagt, dass man bei der Einführung einer Marke das Werbebudget auf der Grundlage des gewünschten Marktanteils festlegen sollte. Laut Peckhams Analysen sollte der anfängliche Share of Voice einer neuen Marke ungefähr das 1,5-Fache des zum Ende einer zweijährigen Periode zu erreichenden Marktanteils betragen.
Mal ein Praxisbeispiel: Nehmen wir an, ihr beschließt, in den Bereich Eiscreme zu diversifizieren - etwas, von dem ich unterstelle, dass ihr ohnehin ständig darüber nachdenkt. Dann solltet ihr zunächst den Gesamtbetrag schätzen (oder erfragen), den alle Speiseeismarken aktuell für Kommunikation ausgeben. Sagen wir, es sind 100 Millionen Euro im Jahr 2020. Als Nächstes müsst ihr entscheiden, welchen Marktanteil eure neue Sorte »Cheesecake-Maracuja«-Eiscreme mittelfristig erobern soll. Warum setzt ihr euch nicht ein ehrgeiziges Marktanteilsziel von 5%? Jetzt solltet ihr Peckhams Formel anwenden und euren Investoren ein Werbebudget von mindestens 7 Millionen Euro (100 Millionen Euro x 5% Marktanteil x 1,5) für eure »Cheesecake-Maracuja«-Initiative rausleiern.
Peckhams Formel basierte übrigens auf einer ziemlich aussagekräftigen empirischen Untersuchung. Peckham verbrachte fast 20 Jahre mit der Erforschung der Zusammenhänge zwischen dem, was Lebensmittelmarken für Marketingkommunikation ausgaben und dem später erreichten Share of Market (Marktanteil). Damit war Peckham der erste Marktforscher, der eine direkte Verbindung zwischen dem Share of Voice einer Marke und ihrem erreichten Marktanteil nachweisen konnte.
GLOSSAR:
Share of Voice (SOV): Anteil der Werbeausgaben einer Marke an den gesamten Werbeausgaben einer relevanten Produktkategorie (Wettbewerbsmarkt) in einem bestimmten Zeitraum.
Share of Market (SOM): Anteil des Absatzes einer Marke an dem kumulierten Absatz einer relevanten Produktkategorie (Wettbewerbsmarkt) in einem bestimmten Zeitraum.
Share of Search (SOS): Anteil der Suchanfragen für eine Marke an der gesamten Anzahl der parallel ausgeführten Suchanfragen für ähnliche Marken oder Produkte in einem bestimmten Zeitraum.
Excess Share of Voice (ESOV): Der überproportionale Share of Voice, also der Anteil der Werbeausgaben, die über dem aktuellen Share of Market also dem relativen Marktanteil der Marke in einem bestimmten Zeitraum liegen.
Excess Share of Search (ESOS): Der überproportionale Share of Soice, also der Anteil der Suchanfragen, die über dem aktuellen Share of Market also dem relativen Marktanteil der Marke in einem bestimmten Zeitraum liegen.
Fast moving consumer goods (FMCG): Schnelldrehende Konsumgüter des täglichen Bedarfs.
Sales Funnel: Der Sales Funel oder Kauftrichter ist ein verbraucherorientiertes Marketingmodell, das den theoretischen Weg des Kunden bis zum Kauf einer Ware oder Dienstleistung veranschaulicht.
Der Analytiker John Philip Jones trat später in Peckhams Fußstapfen und verfeinerte Peckhams doch recht einfach klingende Formel. Jones war wohl weniger an der Einführung von Marken interessiert und konzentrierte sich mehr darauf, bestehenden Marken bei der korrekten Festlegung ihrer Werbebudgets zu helfen. Auch er beobachtete in Hunderten von Fallstudien einen sehr klaren Zusammenhang zwischen dem Marktanteil einer Marke und ihrem Share of Voice. Jones stellte aber auch fest, dass Marken mit einem relativ großen Marktanteil mit deutlich weniger Share of Voice auskommen, um ihren Marktanteil halten oder sogar ausbauen zu können, während Marken mit (noch) eher geringen Marktanteil sich in der umgekehrten Position befänden und in einen relativ größeren Share of Voice investieren sollten als ihr Marktanteil zunächst nahelegen würde.
»The Long and Short of It: Balancing Short and Long-Term Marketing Strategies.« vom Autorenduo Peter Field und Les Binet. (Abbildung: amazon)
Das letzte große Teil des SOV/SOM-Puzzles kam von Peter Field und Les Binet. Das Duo kennen sicher schon einige aufgrund ihres Buchs »The Long and Short of It«. Vor über einem Jahrzehnt trug auch ihre Arbeit dazu bei, eine direkte Korrelation zwischen dem SOV einer Marke und ihrem Marktanteil aufzuzeigen. Noch wichtiger ist, dass es Field und Binet waren, die auch die Idee etablierten, dass eine Marke, deren Share of Voice den aktuellen Marktanteil signifikant übertrifft (»Excess Share of Voice« oder ESOV) über die Zeit mit einem stetigen Marktanteilswachstum rechnen darf, wenn der ESOV aufrecht erhalten wird.
Um es zusammenzufassen: Share of Voice und Share of Market sind zumindest in einer Richtung miteinander gekoppelt. SOV erzeugt SOM. Ein relativer Anstieg des Share of Voice führt häufig zu einem entsprechenden Wachstum des Marktanteils. Und – noch besser – zumindest theoretisch kann man diese Wachstumsrate sogar vorhersagen.
Die Nachteile der SOV-Betrachtung.
Bevor wir nun alle aber allzu enthusiastisch werden, gibt es ein paar gewichtige Haken an den oben genannten Theorien und Formeln. Zunächst einmal wurde der größte Teil der den Formeln zugrunde liegenden Beobachtungen in der relativ stabilen und vorhersehbaren Welt der Fast Moving Consumer Goods (FMCG) gemacht und könnte möglicherweise nicht so einfach auf andere Märkte (zum Beispiel Investitionsgüter oder B2B) übertragbar sein. Auch ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass das Invest in Werbung oder Share of Voice nur einer von vielen Faktoren ist, die den Erfolg und das Wachstum von Marken bestimmen.
Gerade in Zeiten einer Zersplitterung der Kommunikationskanäle (Immer mehr Kanäle mit immer geringeren Einzelreichweiten) sind Budgets nur noch bedingt aussagefähig. Und wer sagt uns, dass unsere Eiscreme-Kampagne wirklich gut ist? Haben wir die effektivsten Kanäle zu unseren Kunden gewählt? Haben wir die Medialeistung günstig eingekauft? Und – noch viel wichtiger – wie ist das Verbrauchererlebnis unseres Produkts? Hat die Welt überhaupt auf unser Cheesecake-Maracuja-Eis gewartet?
Aber der größte Nachteil der SOV/SOM-Formeln, ist der oft mangelhafte Zugang zu den Werbeausgaben der Mitbewerber. Die meisten Unternehmen haben ihren Marktanteil recht gut im Griff. Aber die Berechnung ihres relativen Share of Voice ist heutzutage unglaublich schwierig. Hätte ich einen Euro für jeden Kunden, der mich gefragt hat: »Wie berechnen wir unseren genauen Share of Voice?«, wäre ich heute ein sehr reicher Markenberater.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, es wäre relativ einfach, den Share of Voice zu berechnen. Als Marketingprofi im Unternehmen solltet ihr (hoffentlich) wissen, wie viel ihr im laufenden Jahr für die Marketingkommunikation ausgebt. Die Herausforderung an der Sache ist, die Gesamtzahl der Kommunikationsausgaben in eurem Markt zu ermitteln, damit ihr den Anteil eurer Marke daran berechnen könnt. Als Peckham dies in den 1970er-Jahren tat, erhielten die meisten Marketingentscheider jeden Monat ein Fax von Nielsen mit einer Tabelle, in der die Ausgaben jeder Marke für Fernsehen, Zeitungen, Outdoor, Radio und Kino geschätzt wurden. Auf dieser Grundlage hatten eure Vorgänger so ziemlich alles, was sie brauchten, um den SOV ihrer Marke zu berechnen. JP Jones verwendete für seine Daten hauptsächlich die Ausgaben für TV-Werbung. Und in Zeiten von individuell verhandelbaren Mediakosten und dem steigenden Anteil von digitalen Kommunikationskanälen müsste heute selbst Nielsen Media Research die Waffen strecken, wenn sie aufrichtig wären.
Aber es gibt noch einen Haken an der SOV-Berechnung. Zunächst müssen wir nämlich herausfinden, wer in unserer Kategorie mitspielt, wer unsere Mitbewerber sind. Das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Produktkategorien sind aus Verbrauchersicht eigentlich völliger Quatsch. Sie mögen zwar immer noch ein gängiges Marketingkonzept sein, aber für die Verbraucher existieren sie eigentlich nicht. Manfred Muster macht sich in seiner Mittagspause nicht auf die Suche nach Trockenfertigsuppe. Nein, er rennt aus seinem Büro, um etwas zu holen, das er ins Büro mitbringen und das er schnell essen kann, bevor sein nächstes Meeting beginnt. Bifi konkurriert plötzlich mit Tütensuppe, mit Müsliriegel und Döner. Manfred schei… auf unsere Produktkategoriefestlegung. Es ist wichtig, dass Marketingentscheider das verstehen. Die Definition der Mitbewerber ist nicht ihre Sache; wie vieles andere im Marketing wird das Wettbewerbsumfeld (auch Frame of Reference genannt) letztlich vom Verbraucher entschieden. Und der Mitbewerber, der euch möglicherweise am meisten Weh tut, ist vermutlich genau derjenige, den ihr nicht kommen saht, weil ihr zu sehr mit eurer Kategorie beschäftigt wart.
Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir unseren eigenen Share of Voice hoffnungslos überschätzen, wenn es uns nicht gelingt, die Werbeausgaben der aus Sicht unserer Kunden wirklich relevanten Mitbewerber zu ermitteln und zu addieren. Für unsere Eiscreme müssten wir dann beispielsweise nicht nur die Werbeausgaben der einschlägigen Eiscremehersteller, sondern auch die Werbeausgaben von allen alternativen süßen Belohnungen oder Desserts (, wie Schokoriegel, Schokoladen, Fertigpuddings etc.) mit einkalkulieren. Und – falls sich unsere potenziellen Kunden entscheiden, ihr Eis lieber ausser Haus zu essen – würden noch alle Eisdielen, Coffee Shops und die Monomarken-Stores der großen Eismarken hinzukommen.
SOS als neue Alternative
Die gute Nachricht ist, dass sich eine Lösung am Horizont abzeichnet. Eine Schar von Marketingexperten spricht schon seit einiger Zeit über das faszinierende Konzept des »Share of Search«. Und je mehr man über dieses Konzept nachdenkt, desto verlockender wird die Idee.
Die Verbindung zwischen Share of Voice und Share of Market ist die Geschichte einer Verbindung von oben und unten im Sales Funnel. Wir schätzen, wie viel jede Marke an Werbebudget oben in den Trichter pumpt, und beobachten dann Veränderungen im letztendlichen Kaufverhalten und in den Marktanteilsverschiebungen weiter unten. Was wäre, wenn wir unseren Blick von der Spitze des Trichters weg und etwas weiter nach unten und damit näher zum Kaufakt richten würden? Warum nicht messen, wie viele Menschen online nach den verschiedenen Marken in einer Kategorie suchen und stattdessen diese Zahlen vergleichen? Ein Share of Search statt eines Share of Voice hat eine Reihe von großen Vorteilen.
Weil der Share of Search weiter unten im Sales Funnel ansetzt und gemessen wird , sollte er präzisere Vorhersagen des tatsächlichen Kaufverhaltens ermöglichen als der gute, alte Share of Voice. Sogar in Kategorien mit geringen Kaufentscheidungshürden wie FMCG sollte uns die vergleichende Analyse der Suchhäufigkeit einen guten Anhaltspunkt für die Markenbekanntheit und Markenpräferenz geben können.
Wenn wir die Idee von Field und Les Binet des »überproportionalen Share of Voice« (ESOV) jetzt mal auf die Suche anwenden und sie »Excess Share of Search« (ESOS) nennen, könnten wir Marktanteil in Beziehung zum Share of Search setzen.
Mal angenommen, unsere Eiscrememarke hätte schon einen Marktanteil von 15 Prozent, hatte aber im letzten Monat einen Anteil von 30 Prozent an der gesamten Suche in der Kategorie, dann: Herzlichen Glückwunsch! Wir hätten +15 ESOS und könnten ein schönes Marktanteilswachstum vorhersagen.
Mit ESOS würde auch die schwierige Herausforderung entfallen, herauszufinden, wen genau unsere potenziellen Kunden als Mitbewerber betrachten, in welche »Kategorie« sie uns einordnen. Google verrät uns nämlich, welche anderen Suchbegriffe unsere Kunden parallel eingegeben haben, um sich eine süße Belohnung zu gönnen. Wir bekämen eine völlig neue und realistischere Vorstellung unseres tatsächlichen Wettbewerbs.
Die zeitnahe Verfügbarkeit dieser Suchmaschinendaten könnte sich auch als eine große Hilfe für agile Marketingentscheider erweisen. Die wenigsten Unternehmen betrachten ihren Share of Voice in monatlichen oder vierteljährlichen Zyklen. Meistens werden SOV-Daten nur einmal im Jahr als Grundlage der Budgetfestlegung für das Folgejahr genutzt. Stellt euch vor, diese Daten künftig auf wöchentlicher Basis zu erhalten, wobei eure Marke und euer dynamisches Konkurrenzumfeld in einem neuartigen, agilen Diagramm dargestellt werden.
Die neue Share of Search-Betrachtung hätte auch große Vorteile für B2B-Marken, wo Kaufentscheidungsprozesse deutlich komplexer und noch schwerer zu tracken sind, als bei FMCG-Marken.
Aufgrund all dieser einleuchtenden Argumente scheint ESOS oder Excess Share of Search eine der aufregendsten und nützlichsten Marketingmetriken der nahen Zukunft zu werden. Seine weitere Entwicklung und Verfügbarkeit wird natürlich von der Bereitstellung der Daten seitens Google abhängen und davon, wie schnell fortschrittliche Markenentscheider den Datenschatz, auf dem sie alle eigentlich schon längst sitzen, für die Prognose von Marktanteilsentwicklungen nutzen werden.
Google hat bereits einige spektakuläre Messverfahren und Analyse-Tools entwickelt, die auf das Ende des Sales Funnels abzielen. Ich bin sicher, der Share of Search wird in absehbarer Zeit den Share of Voice als Prognoseparameter für Markenwachstum und als wichtige Bestimmungsgröße für Marketing- und Werbebudgets ablösen. Sorry, Nielsen!
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Über den Autor: Andreas Wiehrdt entwickelt und revitalisiert Marken seit über 20 Jahren. Alleine, als Markenstrategieberater oder im Team mit seinen Design-Kollegen bei mattweis (www.mattweis.de).