Was sind paradoxe Markenpersönlichkeiten? Und hilft das meiner Marke?

Was sind paradoxe Markenpersönlichkeiten? Und hilft das meiner Marke?

Autor: Andreas Wiehrdt
München, den 13.03.2024
Titelbild: DALL-E

Seit ich mich beruflich mit Marken beschäftige, hieß es immer, Marken müssten selbstähnlich sein, also nach außen konsistent auftreten, um erfolgreich zu sein. Letzte Woche wurde ich auf eine Studie aufmerksam, die plötzlich paradoxe Markenpersönlichkeiten propagiert.

In diesem Beitrag möchte ich die wichtigsten Erkenntnisse der Studie zu paradoxen Marken vorstellen, die eine gängige Meinung von Markenexperten grundlegend infrage stellt. Ich zeige Beispiele erfolgreicher paradoxer Marken und gebe konkrete Anregungen zu prüfen, ob das Konzept der paradoxen Markenpersönlichkeit auch für die eigene Marke sinnvoll sein könnte.

Das Prinzip der Selbstähnlichkeit von Marken wurde von Alexander Deichsel, einem deutschen Soziologen und Professor für Markensoziologie an der Universität Hamburg, in den 1980er-Jahren geprägt. Er definierte Selbstähnlichkeit als »... die über verschiedene Kontaktpunkte hinweg konsistente Identität einer Marke, die ihre Wiedererkennung und das Vertrauen der Konsumenten sichert«. Deichsels Ansatz betont die Bedeutung der Konsistenz und des kulturellen Ökosystems einer Marke, um langfristigen Erfolg zu gewährleisten. Seine Theorien haben die Grundlagen des modernen Markenmanagements und der Markenstrategie maßgeblich beeinflusst.

Letzte Woche wurde ich nun auf eine neue Studie der Marketing-Professorin Maria A. Rodas von der University of Illinois über paradoxe Marken aufmerksam, die im Journal of Consumer Research veröffentlicht wurde.

Den Begriff »paradoxe Marken« hatte ich vorher noch nie gehört. Die Forscher definieren paradoxe Marken als solche, die »... widersprüchliche Bedeutungen überspannen oder gegensätzliche Eigenschaften besitzen«, eine Prämisse, die dem traditionellen Modell der Markenbildung eigentlich völlig widerspricht.

Paradoxien sind uns vertraut und gehören zum menschlichen Dasein. Sie sind Denkanstöße, die Fehler in unseren Sinnen und Irrtümer in der menschlichen Logik aufdecken. Schriftsteller und Dichter lieben Paradoxa, weil sie den Leser zum Nachdenken über scheinbare Widersprüche anregen. Wie der berühmte Satz »Weniger ist mehr« oder wenn Shakespeare Hamlet sagen lässt: »I must be cruel to be kind«, werden wir gezwungen, über das Paradoxon und seine Bedeutung nachzudenken.


»Ein Paradoxon [...] ist ein Befund, eine Aussage oder Erscheinung, die dem allgemein Erwarteten, der herrschenden Meinung oder Ähnlichem auf unerwartete Weise zuwiderläuft oder beim üblichen Verständnis der betroffenen Gegenstände bzw. Begriffe zu einem Widerspruch führt. Die Analyse von Paradoxien kann zu einem tieferen Verständnis der betreffenden Gegenstände bzw. Begriffe oder Situationen führen, was den Widerspruch im besten Fall auflöst.«, sagt Wikipedia.


Ein Widerspruch in sich.

Die Studie untersuchte speziell die Wirkung paradoxer Marken auf multikulturelle Konsumenten, die zwangsläufig in zwei Welten leben und täglich mit den Widersprüchen zwischen diesen konfrontiert sind. »Bikulturelle Menschen wechseln ständig zwischen zwei Kulturen hin und her, sei es durch den Wechsel der Sprache oder durch die Reaktion auf unterschiedliche kulturelle Reize«, erklärt Rodas. Der Fairness halber sei erwähnt, dass die Studie an Lateinamerikaner:innen und asiatischen Amerikaner:innen durchgeführt wurde.

Die Studie zeigt, dass Marken, die mehr als nur eine der unten stehenden fünf Persönlichkeitsdimensionen aufweisen, (zumindest für multikulturellen Befragten) attraktiver sind. Die Autoren stützten sich dabei auf frühere Arbeiten der US-amerikanischen Sozialpsychologin Jennifer Aaker in ihrer Studie der »Big 5« Dimensions of Brand Personality aus dem Jahr 1997:

  1. Aufrichtigkeit: bodenständig, ehrlich, wohltuend, fröhlich

  2. Kompetenz: zuverlässig, intelligent, erfolgreich

  3. Begeisterungsfähigkeit: mutig, temperamentvoll, fantasievoll

  4. Kultiviertheit: stilvoll, charmant

  5. Robustheit: naturverbunden, zäh

Mehr über das Thema Markenpersönlichkeit und wie ihr sie formuliert in meinem Beitrag »Emotionale Nähe zu euren Kunden und Differenzierung mit der Markenpersönlichkeit.«


Kognitive Flexibilität scheint jedoch nicht nur eine Eigenschaft multikultureller Verbraucher zu sein. Es ist bekannt, dass der wichtigste Aspekt der Markenbekanntheit darin besteht, einen unauslöschlichen Eindruck in den Köpfen der Verbraucher zu hinterlassen. Dabei führt die Präsentation eines paradoxen Bildes zu einer stärkeren mentalen Involvierung der Konsumenten, da sie versuchen, die Paradoxien in zwei oder mehr Markenbildern zu entschlüsseln.

Erfolgreiche Beispiele für paradoxe Marken sind Land Rover und Burberry. Land Rover hat es (vor allem mit der Submarke Range Rover) geschafft, seinen robusten, ehrlichen und geländegängigen Fahrzeugen eine Aura von Luxus und Kultiviertheit zu verleihen. Burberry hat es geschafft, seine Bodenständigkeit und sein distinguiertes Erbe mit der Aura einer jungen, aufregenden und trendigen Lifestyle-Marke zu verbinden. Eigenschaften, die sich eigentlich ausschließen sollten.

Das Yin-Yang der Markenführung

Vermutlich liegt eine große Stärke in der Kombination verschiedener Persönlichkeiten und Werte einer Marke, die man als das Yin-Yang der Markenführung bezeichnen könnte. Für manche Verbraucher machen Paradoxien eindimensionale Marken interessanter und einprägsamer, indem sie ihnen Komplexität und Würze verleihen.

Auf der anderen Seite möchten die meisten Menschen nicht zu viel über eine Marke nachdenken, und so können paradoxe Markenbilder verwirrend sein - oder schlimmer noch, sie werden wirkungslos, wenn sie nicht gut umgesetzt werden.


Konsistenz oder Vielfalt in der Markenpersönlichkeit?

Das Markenpersönlichkeitskonstrukt von Aaker gehört wohl zu den am meisten gelobten und paradoxerweise auch zu den am meisten kritisierten Theorien unter Marketing-Profis. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Marken - ähnlich wie Menschen - bestimmte Persönlichkeitsmerkmale aufweisen: Markenpersönlichkeit möchte ich hier formal definieren als die Gesamtheit der menschlichen Eigenschaften, die mit einer Marke assoziiert werden. »Die symbolische Verwendung von Marken ist möglich, weil Konsumenten Marken häufig mit menschlichen Persönlichkeitsmerkmalen assoziieren«, schreibt Aaker. Doch was genau diese Eigenschaften sind, wie sie am besten kommuniziert und letztlich von den Konsumenten interpretiert werden, ist umstritten.

Traditionalisten der Markenführung würden argumentieren, dass die erfolgreiche Gestaltung einer Markenpersönlichkeit Einheitlichkeit und Konsistenz erfordert. Die Schaffung einer komplexen Markenpersönlichkeit, die mehrere Dimensionen oder gar Paradoxien umfasst, verwirre die Konsumenten. Im Falle von Konsumgütermarken wie Zahnpasta, Fertiggerichten, Schokoriegeln und Softdrinks, die in der Studie von Aaker untersucht wurden, mögen die Traditionalisten Recht haben, dass Konsistenz besser funktioniert. Wir wissen aber auch, dass Verbraucher mit völlig unterschiedlichen Wertvorstellungen und Weltanschauungen ein und dieselbe Marke aus völlig unterschiedlichen Gründen kaufen. Das wirft die Frage auf, welche Rolle die Markenpersönlichkeit dabei spielt.

Eindimensionale Markenpersönlichkeiten können auch langweilig sein.

Wenn man tiefer in die Markenstrategie einsteigt, wird die Theorie leider komplexer. Insbesondere für Handelsmarken kann eine eindimensionale Markenpersönlichkeit zum Nachteil werden. Wie der Einzelhandelsanalyst Steven Dennis sagt: »Langweiliger Einzelhandel ist tot«. Eindimensionale Markenpersönlichkeiten sind per definitionem vorhersehbar und können daher für Kunden, die auf der Suche nach Faszination und Neuem sind, eine abschreckende Wirkung haben. Um ein überzeugendes Einkaufserlebnis zu schaffen, muss man überraschen und begeistern. Auch bei alltäglichen Handelsmarken lassen sich Bequemlichkeit, Auswahl oder Preisgünstigkeit mit überraschenden Elementen verbinden. EDEKA und Hornbach zeigen dies immer wieder.


Paradoxe Markenpartnerschaften erzeugen Spannung.
Viele Luxusmarken brechen aus ihrer ausgefeilten, eindimensionalen Markenpersönlichkeit aus, indem sie durch gewagte Kooperationen für Aufregung und zusätzliche Persönlichkeitsdimensionen sorgen. Zu diesen unwahrscheinlichen und paradoxen Partnerschaften gehören Louis Vuitton x Supreme, Gucci x Adidas und Disney sowie Balenciaga x Crocs. Bei solchen Kooperationen profitieren beide Marken von der paradoxen Kombination, die Spannung und Hype erzeugt und im besten Fall beide Marken stärker und für ein breiteres Kundenspektrum relevanter macht.

Die Markenpartnerschaft zwischen dem exaltierten Streetwear-Luxuslabel Supreme und dem Luxuslabel Loius Vuitton scheint auf den ersten Blick paradox, hat aber das Potenzial, die Persönlichkeiten beider Marken zu stärken. [ Abbildung: Launchmetricsspotlight]

Die temporäre Markenpartnerschaft zwischen der deutschen Sportkultmarke Adidas und dem High-Fashion-Haus Gucci scheint für beide Marken erfolgreich zu sein.

Die Schuhe mit dem Namen Balenciaga HardCrocs™ waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft und haben das Potenzial, die Wahrnehmung beider Marken nachhaltig zu verändern.


Patagonia ist die paradoxe Outdoor-Brand schlechthin.

Die berühmte »Don't Buy This Jacket«-Werbung der Outdoor-Marke Patagonia mit ihrer paradoxen Botschaft. Zum Download als PDF hier klicken.

Patagonia agiert in mehreren paradoxen Dimensionen. Sie ist eine robuste Outdoor-Marke, aber auch extrem und glaubwürdig in ihrer ökologischen Haltung und kompetent in ihrer Reputation für Hochleistungstextilien.

2011 sorgte Patagonia mit der Anzeige "Don't Buy This Jacket" in der New York Times für Aufsehen. Patagonia war einer der ersten Einzelhändler, der ein Upcycling-Produkt auf den Markt brachte, um seine Altkleider zu recyceln. Um unseren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern, müssen wir alle weniger konsumieren. Die Unternehmen müssen weniger, aber bessere Produkte herstellen. Die Kunden müssen zweimal nachdenken, bevor sie etwas kaufen". Die Kleidung, die Patagonia verkauft, ist für viele anspruchsvolle Kunden ein Statussymbol.

Zusammenfassung

  • Das Konzept der paradoxen Markenpersönlichkeit widerspricht dem bisher propagierten Mantra der konsistenten Markenpersönlichkeit bzw. der Selbstähnlichkeit als Grundvoraussetzung für erfolgreiche Marken.

  • Je nach Markt und Zielgruppe bietet das Konzept der paradoxen Markenpersönlichkeit aber offensichtlich Entwicklungspotenzial, wie Erfolgsbeispiele bekannter großer Marken zeigen.

Was ihr konkret tun könnt.

  • Vielleicht habt ihr euch schon länger nicht mehr mit den Persönlichkeitsmerkmalen eurer Marke beschäftigt? Dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, die aus eurer Sicht und aus Sicht eurer Kundinnen und Kunden attraktiven und passenden Persönlichkeitsmerkmale zu definieren.

  • Wenn ihr (wie ich) bisher Verfechter der kohärenten Markenpersönlichkeit wart, dann wäre jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt darüber nachzudenken, welche zusätzlichen Persönlichkeitsmerkmale eurer Marke guttun könnten.

  • Vielleicht denkt ihr auch darüber nach, mit welcher anderen Marke oder prominenten Persönlichkeit ihr (temporäre) Markenpartnerschaften eingehen könntet, um eurer Marke neue Impulse zu geben?

In jedem Fall unterstütze ich euch gerne dabei.


Der BrandDoctor hilft bei wichtigen Markenentscheidungen mit Tragweite.
Als BrandDoctor helfe ich Unternehmern, Gründern und Marketingverantwortlichen sowie Marken- und Designagenturen dabei, ihre wichtigen Marken- und Marketingentscheidungen professionell und Erfolg versprechend zu treffen. Mit innovativen Tools unterstütze ich sie, das wichtige strategische Fundament dafür zu legen, mit ihren Marken nachhaltig erfolgreich am Markt zu agieren.

Über den Autor: Andreas Wiehrdt entwickelt und revitalisiert Marken seit über 20 Jahren. Allein, als Markenstrategieberater oder im Team mit erfahrenen Spezialisten aus seinem Kompetenznetzwerk.


Wie ich’s mit dem Gendern halte:
Im Interesse einer besseren Lesbarkeit und aus Respekt vor unserer schönen deutschen Sprache habe ich mich dazu entschlossen, in der Regel das generische Maskulinum verwendet. Die Texte beziehen sich aber immer auf Angehörige aller Geschlechter.

Andreas Wiehrdt

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